Kamerafrau Heide-Marie Härtel – Die ganze Tanzgeschichte Deutschlands. Deutschlandfunk Kultur
Für den Aufbau des Tanzfilminstituts erhält Heide-Marie Härtel den Deutschen Tanzpreis 2021, die höchste Auszeichnung für den Tanz hierzulande.
Interview | 29.9.2021
Sie leitet das Deutsche Tanzfilminstitut Bremen, eine in Europa einzigartige Institution. Früher tanzte Heide-Marie Härtel in der Compagnie von Johann Kresnik, engagierte sich politisch und begann, Tanztheaterstücke filmisch zu dokumentieren.
Deutschlandfunk Kultur – Moderation: Britta Bürger – Link zum Podcast
Wenn man Heide-Marie Härtel nach ihrem größten Schatz im Deutschen Tanzfilminstitut fragt, dann muss sie nicht lange überlegen. Der Stolz in der Stimme ist nicht zu überhören, wenn sie sagt: „Der größte Schatz ist es, dass das alles zusammenpasst. Der Einzelschatz spielt nicht die große Rolle, sondern die Kombination dieser vielen, vielen Aufzeichnungen.“ 1988 hat die ehemalige Tänzerin das Institut gegründet. Ein „nationales Archiv zur Sammlung, Bewahrung, Aufbereitung und Produktion von audiovisuellen Tanzdokumenten“, liest man auf der Internetseite. Was nach einer Bundeseinrichtung klingt, ist bis heute ein Verein.
„Ich will das sehen, nicht nur lesen“
Anders als etwa die Malerei ist der Tanz eine flüchtige Kunst. So macht es sich Heide-Marie Härtel vor über 40 Jahren zur Lebensaufgabe, Tanzaufführungen für die Nachwelt zu dokumentieren. Heute befinden sich im Besitz des Tanzfilminstituts allein mehr als 40.000 Video-Kassetten, etwa die Hälfte habe man digitalisiert. Für den Aufbau des Instituts erhält Härtel jetzt den Deutschen Tanzpreis 2021, die höchste Auszeichnung für den Tanz hierzulande. Ende der 1970er-Jahre wird aus der Tänzerin mehr und mehr die Tanz- und Dokumentarfilmerin. Zu dieser Zeit ist sie am Bremer Theater, in der „Tanzcompagnie“ des österreichischen Choreografen und Theaterregisseurs Johann Kresnik. Die Sache mit Kresnik ist eine eigene Geschichte, dazu gleich mehr. Ab Ende der 1960er-Jahre studiert Härtel an der Kölner Tanzakademie. Hier, so erzählt sie, gab es eine große Bibliothek. „Hier liegt auch schon die Wurzel des deutschen Tanzfilminstituts. Ich habe mir immer vorgestellt, ich will das sehen, ich will das nicht nur lesen.“ Auch als Tänzerin sei ihr dieser Gedanke immer wieder gekommen.
Mit dem Gewehr auf der Bühne
„Wir haben sehr viele Dinge getan, die aus einer Improvisation entstanden. Das heißt, man wird sich möglicherweise später gar nicht mehr daran erinnern. Und zudem kam natürlich hinzu, dass wir in diese politische Situation sehr stark eingebunden waren. Das heißt, wir haben mit dem Gewehr auf der Bühne gestanden und gegen den Vietnamkrieg gekämpft. Diese Stücke wurden nur zehn bis 20 Mal in einer Spielzeit gezeigt.“ Also will sie so viel wie möglich festhalten. Bald dreht Härtel mit einer TV-Kamera und erhält auch Aufträge vom Fernsehen, gründet später eine eigene Filmproduktionsfirma. Neben ihren eigenen Filmen findet sich im Tanzfilminstitut auch Material von Pina Bausch, Susanne Linke oder dem Hamburg Ballett, „die ganze Tanzgeschichte Deutschlands“, erzählt Härtel. Ende der 1960er-Jahre, als junge Tänzerin, entdeckt sie den Choreografen Johann Kresnik. „Ich habe im Rahmen eines Festivals ein Stück von Johann Kresnik gesehen. Es ging um die Ostermärsche und das Attentat auf Rudi Dutschke, das hat mich sehr beeindruckt. Und in der Tanzakademie habe ich meinen Mitschülerinnen verkündet: ‚Wenn der mal eine Kompanie aufmacht, da gehe ich hin.‘“
„Ein liebenswerter Despot“
Tatsächlich landete sie später bei Kresnik in Bremen. Keine leichten Jahre, erinnert sich Härtel. Mit seiner Arbeit, seinen Themen, habe er sie begeistert. Als Mensch „war er ein Despot, aber ein liebenswerter Despot“. Mit 28 beendete die gebürtige Saarländerin ihre tänzerische Laufbahn. Gefühlt habe sie bis dahin ihr ganzes Leben getanzt, im Alter von fünf Jahren ging es bereits los. In Bremen war sie auch Sprecherin der „Compagnie“ und Gewerkschaftsvertreterin. Aber, „die Mitbestimmungsforderungen von den Schauspielern und auch der Tänzer, die waren gar nicht so richtig durchsetzbar. Von daher gab es schon so eine Lücke zwischen dem, was man nach außen behauptete und dem, was innen möglich war“. Der Wechsel von der Bühne hinter die Kamera sei ihr auch deshalb nicht schwergefallen. Mit 71 steht Heide-Marie Härtel jetzt vor der großen Frage, wer ihr Lebenswerk, ihr Tanzfilminstitut, übernehmen könnte. „Ich werde demnächst mit Verhandlungen beginnen. Aber das ist natürlich eine Frage der Garantie, dass es weitergeführt wird. Ich möchte nicht, dass es irgendwo nur lagert. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es an die Akademie der Künste in Berlin passt. Mit denen haben wir sehr lange und sehr viel gearbeitet.“