Laudatio auf Heide-Marie Härtel zur Ehrenmitgliedschaft bei KOÏNZI-Dance von Dr. Nele Lipp Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - des Tanzes. Das Deutsche Tanzfilminstitut Bremen in seinem Kontext. |
KOÏNZI-Dance | Hamburg | D | 25.04.2019 |
Die Position des Deutschen Tanzfilminstituts Bremen ist offensichtlich im Bereich einer über die deutschen Grenzen hinausgreifenden „Kulturgeografie“ nicht unbedingt im Bewusstsein der nationalen und internationalen Tanzszene. Um dieses Defizit zu beheben, soll hier eine Positionsbestimmung versucht werden.
1988 gründete Heidemarie Härtel, ehemalige Solotänzerin bei dem österreichischen Choreografen und Regisseur Johann Kresnik, zusammen mit Susanne Schlicher, die allerdings kurz danach wieder ausstieg, das Deutsche Tanzfilminstitut Bremen als gemeinnützigen Verein. In diesem Institut, in dem mit wechselnden Mitarbeitern im Laufe von inzwischen mehr als dreißig Jahren das größte Tanzfilmarchiv der Welt aufgebaut wurde, geht es nicht um Tanzfilme im Sinne von Spielfilmen, sondern um Videotapes und digitale Dokumente künstlerischen Tanzes, also des Bühnentanzes. Dabei ist es das einzige Tanzfilmarchiv, das nicht nur sammelt, sondern auch selbst produziert. Härtel hat, – auch darin weitgehend solistisch, mit Entwicklung und Supervision der Aufgabenbereiche ein gigantisches Werk entfaltet, dessen Anerkennung bis 2019 noch nicht in der Verleihung des renommierten Deutschen Tanzpreises gipfeln konnte, obgleich es dessen schon lange würdig ist. Es fehlte der einfache, aber offensichtlich schwer zu denkende Gedanke, dass zumindest die Arbeit der meisten der bisherigen Träger des Tanzpreises ohne Härtels dokumentierende und archivarische Arbeit gar nicht hätten entsprechend wahrgenommen werden können.
Ihre Leistungen sollen hier aber nicht im Einzelnen benannt und beschrieben werden, denn jene findet jeder im Internet, sondern sie und ihr Institut sollen endlich in den Zusammenhang gestellt werden, in dem sie gesehen werden müssen, um ihren kulturellen Stellenwert einschätzen zu können.
Unter Auslassung einer Spur im Dunkeln, die zu sehr frühen und kaum zugänglichen Filmdokumenten über die Music-Hall-Tänzerinnen Saharet und Cléo de Mérode führt und die von der französischen Filmpionierin Alice Guy-Blanché stammen, soll zunächst fünfzig Jahre vor die Gründung des Instituts zurück geblickt und dazu ein wenig ausgeholt werden:
Der inzwischen zu Unrecht fast vergessene französisch-jüdische Publizist, Literaturkritiker, Opern- und Ballettimpresario René Blum war nicht nur ein Bruder von Leon Blum, dem ersten sozialistischen Premierminister Frankreichs, sondern ein Freund des Schriftstellers Marcel Proust, den Blum – der ein großer Beweger war – veranlasste, dem Verleger Bernard Grasset seinen ersten Band von À la recherche du temps perdu (Suche nach der Verlorenen Zeit) vorzulegen, damit er diesen endlich publiziere, was Proust auch tat – allerdings auf seine eigenen, nicht auf des Verlegers Kosten. Die Recherche ist eine Allegorie der Suche nach Wahrheit der Erinnerung – die nur als Suche, nicht als wirklich gefundene Erinnerung funktioniert – und zugleich ein Bemühen darum darstellt, die Vergangenheit im Kunstwerk zu bewahren.
Unter dem Aspekt des Wertes der Mühen um kulturelles Gedächtnis war Blum, nicht nur im Bezug auf das Werk Prousts, wohl auch der erste, der die ungeheure Wichtigkeit der Rolle des Films für den Tanz erkannte: Etwa Mitte der Dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts, als er gemeinsam mit dem Tänzer und Choreografen Leonide Massine die Ballets Russes de Monte Carlo, eine der Nachfolgegruppen der Ballets Russes des Serge Diaghilev leitete, empfahl Blum Massine, Filmaufnahmen von seinen Probearbeiten zu machen, was dieser auch tat und bald darauf kooperierte er dann auch schon mit den Warner Brothers, die 1938, in einer Zeit, als diese noch Zeichentrick- und Abenteuerfilme produzierten, für eine Filmadaption seiner Choreografie Gaîté Pairisienne (Pariser Fröhlichkeit). Massine hatte anschließend mit dem Film eine längere Liäson, die 1948 in der bekannten Tanzfilm-Adaption von Hans Christian Andersens Die Roten Schuhe gipfelte.
Seit Mitte der Dreißiger Jahre also existiert überhaupt der Gedanke daran, filmische Dokumente künstlerischen Tanzes und seiner Entstehung im Probenprozess herzustellen. – Wo aber blieben diese? – Und wieso kam der zweite Aspekt, der des Sammelns, Ordnens, haltbar Machens und Archivierens in Deutschland erst mehr als fünfzig Jahre später hinzu? – Immerhin gab es ja schon die 1944 von dem US-amerikanischen Tänzer und Choreografen Jerome Robbins gegründete Dance Division der New York Library, jedoch nichts Vergleichbares in Europa und – selbst nicht in Paris.
Offensichtlich braucht es dazu Besessene und entsprechende Brutstätten. Und diese sind einfach nicht immer mit der Entstehung eines neuen Mediums oder Bereiches sofort zur Stelle.
Wenden wir uns aber zunächst noch der allgemeinen Filmgeschichte zu. Wie war es da mit den Archiven, und wie war es mit den Initialzündungen zu diesen?
Der deutsche Drehbuchautor, Dramaturg und Filmhistoriker Gerhard Lamprecht, (fast der gleiche Jahrgang wie Massine) der ab 1920 auch eigene Filme produzierte – die bekanntesten darunter waren wohl die Nachkriegsfilme Irgendwo in Berlin und Emil und die Detektive – hatte schon in seiner Schulzeit angefangen, filmgeschichtliche Dokumente zu sammeln, und das, als sie als Werkzeuge einer Wissenskultur des Erinnerns und so auch der Filmwissenschaft noch kein Desiderat waren. Im Laufe der Zeit sammelte er alles, was mit dem Film zu tun hatte, wie Fotos, Plakate, Programmhefte, Rezensionen, Drehbücher, Filme, filmarchitektonische Modelle, Kameras und Projektoren. Im Jahr 1963 erwarb glücklicherweise das Land Berlin diese Sammlung und machte eine Institution daraus. Mit Lamprecht als Gründungsdirektor konnte die DEUTSCHE KINEMATHEK jetzt ihre Arbeit aufnehmen. Seitdem wird dort alles archiviert, was mit Geschichte und Technik des Films zu tun hat. Weitere Sammlungen und Nachlässe kamen im Lauf der Zeit hinzu. Im Jahr 2000, siebenunddreißig Jahre nach ihrer Gründung, erhielt die Kinemathek zusätzlich öffentliche Ausstellungsräume und konnte ihren Arbeitsbereich durch Kooperationen und Publikationen erweitern.
Das alles gründete in dem Traum eines besessenen Schuljungen.
Ein kleiner Blick auf die parallelen Zeitachsen belegt die Entwicklung im Film
Um 1895 wurden die ersten Filme überhaupt gedreht (zum Beispiel von Georges Méliès – Frankreich), um 1920 setzten mit den Schriften Sergej Eisensteins und Bela Balaczs erste filmwissenschaftliche Untersuchungen ein, 1963 wurde das erste Deutsche Filmarchiv, die Deutsche Kinemathek, in Berlin gegründet.
Die Entwicklung im Tanzfilm
1896 drehten die Brüder Lumière kurze Filmsequenzen von Loïe Fullers Serpentinentanz, um 1905 wurden Tanzfilm-Aufnahmen von A. Guy-Blanché gemacht, um 1935 begannen systematischere Tanz-Filmdokumentationen durch L. Massine, 1985 wurde das Deutsche Tanzfilminstitut gegründet und 2013 setzten mit Claudia Rosinys Publikation Beziehungen zwischen Mediengeschichte und moderner Tanzgeschichte erste tanzfilmwissenschaftliche Untersuchungen ein.
Im Bereich der Sparte Tanzfilm dauerte es also nicht ganz so lange, bis sich jemand fand, der das jeweils neue Medium als sammlungs- und in diesem Zusammenhang auch wissenschaftswürdig erkannte und damit startete, derartig exzessiv zu sammeln, dass sich aus dem persönlichem Engagement nach und nach eine Institution entwickeln konnte. Lamprecht war Filmemacher, Härtel Tänzerin. Beide verbindet ein je ganz persönliches und vor allem ein unbürokratisches Engagement, sowie ein lebenslanger und existenzieller Einsatz für die Sache.
Es soll hier auch noch eine dritte Sammlerpersönlichkeit in Relation gesetzt werden, um der Beobachtung, dass offensichtlich nur ein besonderes, in der eigenen Biografie begründetes Engagement derartige Archive ins Leben zu rufen imstande ist, zusätzliches Gewicht zu verleihen. Es handelt sich um das Beispiel des litauisch-amerikanischen Filmregisseurs, Autors und Archivars Jonas Mekas. Aus verzweifelter Leidenschaft für das Tagebuchschreiben während seiner elfjährigen Odysse, in der er von den Nationalsozialisten interniert und anschließend als „displaced person“ durch Deutschland geschleust wurde, entwickelte er, schließlich in die USA transportiert, das so genannte „Tagebuchfilmen“. Dies machte ihn zu einem Pionier des amerikanischen Avantgardekinos und aus seiner persönlichen Sammlung der Motive endloser Tage banalen Geschehens und aus der darin verborgenen Suche nach Lebenssinn wurde – vergleichbar der Recherche von Marcel Proust – ab den frühen 1960er Jahren schuf er ein zunächst privates Filmarchiv, in dem er bald nicht nur seine, sondern tausende experimenteller Kunstfilme amerikanischer Outsider, die – jenseits des Hollywoodkinos mit ihrer gefälligen Unterhaltung – subtile Erfahrungen, Wahrnehmungen und Ideen außerhalb des kommerziellen Mainstreams dokumentieren.
1970 gründete Mekas unter anderem zusammen mit Peter Kubelka, dem experimentierenden Filmemacher und Kodirektor des österreichischen Filmmuseums, sowie dem US-amerikanischen Kurzfilmregisseur Stan Brackage in New York die Anthology Film Archives, aus denen die weltgrößte Sammlung von Avantgarde-Filmen hervorging. Bewundernswerter Weise verstand Mekas diese trotz ständiger Geldknappheit zu schützen und bis zu seinem Lebensende in diesem Jahr zu erhalten.
Entsprechendes – nur hier im Bereich des künstlerischen Tanzes – findet sich in Heidemarie Härtels Deutschen Tanzfilminstitut, dem jetzt, 34 Jahre nach seiner Gründung, ein der DEUTSCHEN KINEMATHEK entsprechendes neues Zuhause und eine dauerhaft stabile Förderung dringend gewünscht wird, damit ein unvergleichliches kulturelles Erbe bewahrt werden kann.
25. April 2019